Kindesabnahmen: Was die Betroffenen sagen…

29.05.2018

Die Kindesabnahme oder Fremdunterbringung ist eine der massivsten Formen der Intervention durch Jugendämter. 2017 waren in der Stadt Salzburg 348 Kinder und Jugendliche außerhalb ihrer Familien untergebracht. Der Großteil lebte in betreuten Wohngemeinschaften. 76 waren bei Pflegefamilien. „In einer österreichweit einzigartigen Studie hat das Jugendamt der Stadt Salzburg nun nachgefragt, was diese Maßnahme bewirkt und wie sie erlebt wird“, erklärt Sozial-Vizebürgermeisterin Anja Hagenauer.

Die schlechtesten Erinnerungen (Zitate)

„Der Abschied, die laufenden Beziehungsabbrüche, dass sie (Betreuer*innen der WG) dann einfach weggestorben sind weil sie haben ein eigenes Leben, wir haben kein eigenes Leben, sie sind dann einfach weg. Da hat man dann einfach doch gespürt, wir sind nur die Arbeit für sie. Sie sind für uns aber eigentlich mehr.“ (Kind/JugendlicheR)

„Dass es dir das Herz zerreißt. Dass du mit dir selber ringst, ob du das Richtige tust. Dass du mit den Vorwürfen anderer lernen musst umzugehen. Die anderen haben dafür wenig Verständnis.“ (Mutter)

„Momente wie Muttertag, Elternsprechtage, wo dann Betreuer gekommen sind, das waren Momente, die weh getan haben. Egal, wie schlecht die Situation zuhause war, da hat man schon gemerkt, dass sie eben Leute hat, mit denen sie verwandt ist und jetzt bin ich in einer Unterbringung, in der die Leute kommen und gehen und für mich zuständig sind.“ (Kind/JugendlicheR)

Die besten Erinnerungen (Zitate)

„Dass das für uns alle zusammen wie eine Familie war, wir alle waren wie Geschwister, die Betreuer haben eine Elternrolle übernommen.“ (Kind/JugendlicheR)
„So viele Unternehmungen, was sich eine normale Familie oft gar nicht leisten kann. Schöne Zeit, Hochs und Tiefs, aber definitiv viel besser als Zuhause.“ (Kind/JugendlicheR)

„An Weihnachten Unternehmungen, Schlittenfahren, Eislaufen, die anderen haben in der Zwischenzeit dekoriert und eine schöne Atmosphäre geschaffen. Es wurde voll gut gekocht und es hat an überhaupt nichts gefehlt. Gemeinsam Lieder gesungen, jeder hat mitgemacht, es war ein Zusammenhalt da wie in einer Familie.“ (Kind/JugendlicheR)

„Man müsste vielen Müttern einmal das Klischee nehmen, das Jugendamt nimmt dir das Kind weg, wenn du dich rührst. Das ist ein Klischee und ich sage, das ist heute noch präsent. Vielleicht nicht mehr so schlimm, wie zu meiner Zeit, aber man müsste das mehr unter den Müttern verbreiten, dass das Jugendamt nicht so böse ist, wie man es annimmt.“ (Mutter)

Die Studie im Überblick

Angesprochen wurden Mütter, Väter, Jugendliche und Sozialarbeiter*innen. Insgesamt wurden 124 Adressen angeschrieben. 24 Interviews konnten schließlich von Studierenden der FH Salzburg durchgeführt werden. „Es war wichtig, dass wir das nicht selber machen. Dadurch wurde die Objektivität gewahrt“, sagt Sozialarbeiterin Martina Müller von der Projektgruppe des Jugendamts. „Das Ziel war, jeden Einzelfall aus möglichst vielen verschiedenen Perspektiven betrachten zu können.“

Vier Thesen wurden aufgestellt:
• These 1: Für eine gelungene Unterbringung braucht es eine gute Aufklärung der betroffenen Kinder und Eltern
• These 2: Unterbringungen können durch andere Interventionen verhindert werden
• These 3: Eine gelungene Rückführung in die Familie bedarf einer umfangreichen Begleitung durch das Jugendamt
• These 4: Wenn eine Unterbringung positiv erlebt wurde, nimmt das Leben der KlientInnen einen positiven Verlauf

Allgemeines Fazit aus den Interviews:
• Trotz Kennenlernens und Vorgesprächen war der Tag des Einzugs z.B. in die Wohngemeinschaft für viele Minderjährige eine der schlimmsten Erinnerungen. Elternteile, die nicht Obsorgeträger sind, müssen nach Möglichkeit mehr eingebunden werden. Dafür ist kontinuierliche und intensive Elternarbeit nötig.
• Fremdunterbringungen waren die einzig verbliebene Möglichkeit. Teils auch, weil das Jugendamt zu spät beigezogen wurde. Daher ist mehr Aufklärungsarbeit bei Kooperationspartner*innen nötig, sodass Meldungen zeitgerecht erfolgen.
• Unter den Befragten gab es nur eine versuchte Rückführung in die Herkunftsfamilie, die jedoch nicht glückte. Hier war die Jugendberatung „bivak“ als Teil des Jugendamtes wichtige „Auffangstelle“. Dank altersentsprechender Angebote der Unterbringung (WG, betreutes Wohnen, eigene Wohnung) konnte die Verselbständigung der betroffenen Kinder/Jugendlichen bis zur Volljährigkeit erreicht werden.
• Dass, wenn eine Unterbringung positiv erlebt wurde auch das Leben der KlientInnen einen positiven Verlauf nimmt, wurde von fast allen Interviewten bestätigt.

Die Empfehlungen:
• Mitarbeiter*innen der Kinder- und Jugendhilfe (Jugendamt und Wohngemeinschaften) für die Einführungsphase noch mehr sensibilisieren. Dazu Austausch zwischen WG und Jugendamt intensivieren
• Kontinuierliche und intensive Elternarbeit während der Zeit der Unterbringung. Elterngespräche als Standard etablieren, zusätzlich zu Hilfeplangesprächen
• Mehr Aufklärungsarbeit sowie Informations- und Austauschveranstaltungen mit den Kooperationspartnern
• Arbeiten im Sozialraum, um die Vernetzung zwischen verschiedenen Einrichtungen zu intensivieren
• „bivak“ als niederschwellige Anlaufstelle für Jugendliche bewahren
• Begleitung der Jugendlichen über die Volljährigkeit hinaus
• diese Art der Qualitätssicherung als Tool am Jugendamt etablieren


Jugendamt so früh wie möglich kontaktieren!
Jugendamt so früh wie möglich kontaktieren!

Karl Schupfer