„DIE sollen doch Deutsch lernen!“ – Muttersprachenunterricht als doppelte Chance

20.02.2008

Sprachenvielfalt und kulturelle Heterogenität sind gesellschaftliche Realität. Klassen mit SchülerInnen aus unterschiedlichen Kulturen, aus Ländern mit unterschiedlichsten Erstsprachen gehören heute zum ganz normalen pädagogischen Alltag. Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, deren Sozialisationshintergründe durch Migration geprägt sind, stellen auch die PädagogInnen vor neue Herausforderungen im Unterricht.

„Derzeit wird immer wieder beklagt, dass die Kinder mit nicht deutscher Muttersprache den Unterrichtserfolg ‚unserer’ Kinder behindern“, weiß Mag. Claudia Winklhofer, Koordinatorin und Referentin an der Pädagogische Hochschule im Bereich "Interkulturelle und sprachliche Bildung“. Doch Kinder mit Migrationshintergrund seien nicht ‚Schuld’, wenn das Unterrichtsniveau in der Klasse sinke, sondern sie zeigten die Schwachstellen und Mängel unseres Schulsystems auf, das in vielerlei Hinsicht nach wie vor von einer monokulturellen und monolingualen Situati-on ausgehe, die es so einfach nicht mehr gibt, so die Fachfrau. „Viele Fördermaßnahmen zielen noch immer darauf ab, dass Kinder mit Migrationshintergrund, ohne ihre Herkunftsidentität zu berücksichtigen, so schnell als möglich Deutsch lernen. Weil unser Schulsystem den Lernbe-dürfnissen vieler dieser Kinder nicht genügt, kann dies zu Ausgrenzung und Schulversagen bei Kindern von MigrantInnen führen“.

„Heute wissen wir, wie wichtig frühzeitiger Muttersprachenunterricht für die weiteren Chancen junger Menschen mit Migrationshintergrund ist. Wir wissen, dass durch die Förderung der Erstsprache die Zweitsprache weitaus schneller erlernt wird, was natürlich auch der ganzen Klas-sengemeinschaft nützt. In der Vergangenheit brachte es nicht viel, dass Eltern mit schlechten Deutschkenntnissen mit ihren Kindern zu Hause Deutsch sprachen. Ergebnis all der großen Mühe dabei war eine Halbsprachigkeit in der Muttersprache und in Deutsch. Auf beiden Seiten steht da der Mangel und nicht die Tatsache einer zweiten Sprache im Vordergrund – ein Zustand, unter dem die Jugendlichen in vielerlei Hinsicht zu leiden haben. Das wollen wir ändern, indem wir die Chancen des Muttersprachenunterrichts nutzen und die Förderungen des Bundes ausschöpfen“, so Anja Hagenauer, die städtische Integrationsbeauftragte. Abdullah Cetin, Leiter der ARGE MuttersprachenlehrerInnen, appelliert an die Lehrer-KollegInnen und DirektorIn-nen, die Eltern zu motivieren, ihre Kinder für den Muttersprachenunterricht anzumelden und ihnen damit den Bildungsweg in Österreich zu erleichtern.


Pro und Contra Muttersprachenunterricht – Beispiele aus dem Alltag:

Vorurteil 1: Durch den Muttersprachenunterricht wird das Lernen der deutschen Sprache vernachlässigt

Das ist falsch. Der größte Deutschlernerfolg wird dann erzielt, wenn beide Sprachen – die Muttersprache und Deutsch parallel trainiert werden. Daher darf es nicht heißen Deutsch oder Muttersprache sondern sowohl als auch.

Vorurteil 2: Kinder sind mit zwei Sprachen überfordert

Richtig ist, dass der Erwerb von zwei Sprachen zeitlich etwas länger dauert als ein monolingualer Erwerb. Erwiesen ist, dass die Entfaltung der einen Sprache die der anderen fördert. Ein Vorteil von Zweisprachigkeit ist auch die Fähigkeit, zwischen zwei Sprachen und damit zwei Kulturen zu „pendeln“. Diese interkulturellen Fähigkeiten sind in der internationalen Wirtschaft oft schon Grundvoraussetzungen.

Vorurteil 3: Muttersprachenunterricht ist nicht notwendig, weil die Kinder zuhause ihre Muttersprache sprechen

Wichtig ist, dass die Sprachmuster der Muttersprache korrekt angelegt und gefestigt werden, was durch den Muttersprachenunterricht möglich ist. Passiert dies nicht, so führt das häufig zum sogenannten doppelten Semilingualismus (= Halbsprachigkeit).
Insbesondere die zusätzliche Alphabetisierung in der Muttersprache ist von besonderer Wichtigkeit. Denn erst die Kulturtechniken Lesen und Schreiben garantieren eine konsequente Weiterentwicklung der Sprache(n). Wird der Erwerb der Muttersprache mit dem Schuleintritt unterbrochen, leidet darunter auch die Entwicklung allgemeiner kognitiver Fähigkeiten. Fällt Semilingualismus im Alltagsgespräch nicht auf, so zeigen sich die Defizite spätestens in der Schule, wenn kognitiv-akademische Fertigkeiten in den Vordergrund rücken.

Vorurteil 4: Muttersprachunterricht kostet, wir bezahlen

Das Potential zweisprachiger Kinder ist für die Wirtschaft Österreichs nicht zu unterschätzen. Einerseits erweitern österreichische Firmen kontinuierlich ihre Auslandstätigkeit insbesondere in Ländern, aus denen ein Großteil der MigrantInnen kommt (Serbien, Kroatien, Bosnien, Tür-kei,..). Andererseits können zweisprachig aufgewachsene Kinder neues Kundenpotential im Inland erschließen, da sie sprach- und kulturspezifische Kenntnisse haben.


Voraussetzungen für Muttersprachenunterricht (Infoblatt des Ministeriums)

An Österreichs Schulen besteht die Möglichkeit, dass SchülerInnen mit einer anderen Muttersprache als Deutsch oder Kinder, die in der Familie zweisprachig aufwachsen, muttersprachlichen Unterricht im Ausmaß von 2 bis 6 Wochenstunden erhalten. Grundsätzlich kann ein Kind für jede Muttersprache angemeldet werden, für eine Gruppe sind jedoch mindestens zehn SchülerInnen notwendig. Im Schuljahr 2007/2008 gab es Muttersprachenunterricht in Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (BSK), Türkisch, Albanisch, Arabisch, Tschetschenisch. Der Unterricht wird von MuttersprachenlehrerInnen abgehalten, die entweder im Herkunftsland oder in Österreich eine pädagogische Ausbildung absolviert haben. Der Lehrplan ist vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur festgelegt.

Die Anmeldefrist für den Muttersprachenunterricht beginnt Anfang März!


Muttersprache wird unterrichtet
a) als unverbindliche Übung
in der Volksschule (1. bis 4. Schulstufe)
in der Sonderschule (1. bis 5. Schulstufe)
b) als unverbindliche Übung oder als Freigegenstand
in der Hauptschule (5. bis 8. Schulstufe)
in der Volksschuloberstufe (5. bis 8. Schulstufe)
in der Sonderschule (6. bis 8. Schulstufe)
in der Polytechnischen Schule (9. Schulstufe)
c) als unverbindliche Übung oder als Freigegenstand im Rahmen der Schulautonomie
an allgemein bildenden höheren Schulen
an berufsbildenden mittleren Schulen (wie Handelsschulen)
an berufsbildenden höheren Schulen (wie Handelsakademien)

Unverbindliche Übung:
Die Teilnahme am Unterricht wird ohne Benotung im Jahreszeugnis bzw. in der Schulnachricht und bei außerordentlichen SchülerInnen in der Schulbesuchsbestätigung vermerkt.

Freigegenstand:
Die Teilnahme am Unterricht wird mit Benotung im Jahreszeugnis bzw. in der Schulnachricht und bei außerordentlichen SchülerInnen in der Schulbesuchsbestätigung vermerkt.

Organisationsformen des Unterrichts:
1) unterrichtsparallel: Die Schülerinnen und Schüler werden während der regulären Unterrichtszeit in einer Gruppe zusammengefasst.
2) integrativ: Die Lehrkraft für den muttersprachlichen Unterricht arbeitet im Team mit der/dem KlassenlehrerIn/FachlehrerIn.
3) zusätzlich zum Unterricht am Nachmittag (falls nicht genügend Anmeldungen aus einer Klasse zustande kommen, können Kinder aus verschiedenen Klassen oder Schulen in einem Kurs zusammengefasst werden.)

Die Teilnahme an diesem Unterricht ist freiwillig und kostenlos, seitens des Ministeriums wird empfohlen, dieses zusätzliche Bildungsangebot aufzugreifen. Die im Elternhaus zu Grunde gelegten Kenntnisse in der Muttersprache können damit gefestigt und verbessert werden. Gute Kenntnisse in der Muttersprache können sich auch auf die Leistungen in Deutsch und in anderen Unterrichtsgegenständen positiv auswirken.
Alles Nähere, z.B. in welchen Sprachen, wie viele Stunden pro Woche und an welcher Schule muttersprachlicher Unterricht angeboten wird, gibt die Direktion der vom Kind besuchten Schule bekannt.


Stand Muttersprachenunterricht in Salzburg im Vergleich mit anderen Bundsländern - Tabellen und Infos zum Thema unter

www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/andere_erstsprachen.xml






ExpertInnen melden sich zu Wort

Abdullah Cetin:
„Meine langjährige Erfahrung als Muttersprachenlehrer bestätigt die wissenschaftlichen Untersuchungen, dass die schulische Förderung der Muttersprache auch zu wesentlich besseren Deutschkenntnissen führt.“

Claudia Winklhofer: „Im Bildungsbereich wird vielfach argumentiert, dass Kinder mit Migrationshintergrund ihre Muttersprachen nicht weiterentwickeln müssen, da sie diese ohnehin beherrschen und in ihren Familien sprechen. Die Sprachentwicklung ist aber bei Schuleintritt lange noch nicht abgeschlossen, und wenn diese kommunikativen Basiskompetenzen und der Sprachstand zu Schuleintritt genügen würden, würde sich ja auch der Deutschunterricht für Kinder mit Erstsprache Deutsch in Frage stellen!“

Anja Hagenauer: „Muttersprachenunterricht sollte als Chance wahrgenommen werden, den Kindern eine gute zweisprachige Basis für die Zukunft mitzugeben. Dies ist ein nicht zu unterschätzendes Potential für die österreichische Wirtschaft.“


Am 21. Februar ist internationaler Tag der Muttersprache, der dieses Jahr auch eingebettet ist in das UNESCO-Jahr der Sprachen 2008. Die Initiative zu diesem internationalen Jahr der Sprachen kam aus Österreich: Bei der 33. UNESCO-Generalkonferenz im Jahr 2005 hat Österreich eine entsprechende Resolution eingebracht, die mit Unterstützung zahlreicher Mitgliedsstaaten, insbesondere aus dem afrikanischen Raum, angenommen wurde.



Strobl-Schilcher, Gabriele, Dr. (11399)